„Wenn es um Nachhaltigkeit geht, ist das Etikett Teil der Lösung“

Was Etiketten dazu beitragen können, den Einsatz von Verpackungsmaterialien zu reduzieren und ein fortschrittliches Recycling voranzutreiben.

Interview mit Dr. Ulli Nägele, Leiter Entwicklung und Anwendungstechnik bei HERMA GmbH

Vielfach wird jetzt gefordert, Folien als Verpackungsmaterial sparsamer einzusetzen und Produkte in manchen Fällen einfach direkt zu etikettieren? Geht das so ohne weiteres?

Dr. Ulli Nägele: Bei einer Direktetikettierung besteht immer die Befürchtung, dass Bestandteile des Haftklebstoffs vom Etikett in das Lebensmittel „hineinmigrieren“. Um eines gleich vorweg zu schicken: Geprüfte, also für Lebensmittel zugelassene Etiketten-Haftklebstoffe, enthalten keine toxischen oder bedenklichen Stoffe. Aber Lebensmittelhersteller und -anbieter wünschen sich natürlich trotzdem, dass überhaupt so wenige Substanzen wie möglich in das Lebensmittel gelangen. Die „Migration“ solcher Bestandteile beschäftigt die Lebensmittelindustrie deshalb schon sehr lange. Eine Folie ist allerdings grundsätzlich nicht unbedingt eine Barriere, erst recht nicht, wenn Lebensmittel (oder andere Produkte) Fett enthalten. Denn das gute Löseverhalten von Fett begünstigt eine Migration von Stoffen besonders stark – auch durch Folien hindurch. In der Vergangenheit hat man deshalb bisweilen Folien mit speziellen Barriereeigenschaften eingesetzt. Diese Folien sind Verbunde mehrerer Schichten mit unterschiedlichen Materialien. Um die Recyclingfähigkeit solcher Verpackungsformen jedoch zu gewährleisten, sollen sie in Zukunft aus einer Monofolie bestehen, die nach dem Gebrauch einer stofflichen Verwertung zugeführt werden kann. Das bedeutet, dass Folie künftig noch weniger eine Barrierefunktion übernehmen können. Lässt man die Folienverpackung ganz weg, muss der Etikettenhaftkleber natürlich noch migrationsärmer sein.

Es gab auch in der Vergangenheit schon sehr migrationsarme Etiketten. Aber je migrationsärmer das Etikett wurde, desto schlechter wurden im Allgemeinen die Haftungseigenschaften – und umgekehrt. Schlechte Haftungseigenschaften sind jedoch kein akzeptabler Kompromiss für die Lebensmittelindustrie. Dort sind sichere Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit essentiell, zumal beim Etikettiervorgang oftmals erschwerende Bedingungen hinzukommen, wie etwa kühle Umgebungstemperaturen und Highspeed-Applikationen. Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet die Mehrschichttechnologie bei den Haftklebern. Dabei werden im Zuge der Beschichtung gleichzeitig zwei unterschiedliche Haftkleber aufgebracht, deren Eigenschaften unabhängig voneinander kontrolliert werden können, in diesem Fall eben starke Haftung auch auf schwierigen Untergründen und geringe Migration.

Auf Basis der Mehrschichttechnologie konnten wir Haftkleber entwickeln, bei denen trotz der geforderten starken Anfangshaftung eine Migration beispielsweise durch die weitverbreiteten PE-Kunststoffe hindurch praktisch nicht stattfindet. In standardisierten Tests gemäß der Europäischen Norm EN 1186 erzielte etwa der Haftkleber mit der Bezeichnung 63Mps überragende Ergebnisse: Bei Tests eines renommierten Prüfinstituts lagen die Migrationswerte unter der Bestimmungsgrenze. Die in diesen Tests eingesetzte Folie aus Polyethylen (PE) war extrem dünn und damit eigentlich besonders migrationsanfällig. Dass wir mit dem 63Mps geringe Migrationswerte erzielen, hatten wir erwartet. Dass wir aber unter den genannten Bedingungen derart gute Migrations-Werte erzielen würden, war selbst für uns eine kleine Sensation. Damit sind Etikettenverwender auf der sicheren Seite.

Wohlgemerkt: Bei den mehrschichtigen Produkten handelt sich nicht um neuartige, teure Spezialhaftkleber, sondern um Standardhaftklebstoffe mit bekannten Klebe- und Weiterverarbeitungseigenschaften. Dank der anders formulierten zweiten bzw. Zwischenschicht liefern sie jetzt einen Mehrwert, nämlich zum Beispiel die geringe Migration, behalten aber ihre hervorragenden Verarbeitungseigenschaften.

Eine wichtige Forderung aus Politik und Wissenschaft ist es, Recycling von Verpackungsmaterialien noch stärker zu nutzen und auch noch stärker als Chance zu begreifen. Welche Rolle können Etiketten dabei spielen?

HERMA verfolgt dabei drei Ansätze:

1. Wenn es darum geht, Kunststoffverpackungen einem echten Recycling (und nicht etwa einem Down-Cycling) zuzuführen, kommt dem Etikett bzw. seiner rückstandsfreien Ablösbarkeit inzwischen eine zentrale Funktion zu. Denn wenn sich mit dem Etikett gleichzeitig alle Störstoffe, das heißt vor allem Druckfarben von der Kunststoffverpackung abtrennen lassen, erhält man sauberes Granulat in seiner wertvollsten Form. Doch wie gelingt der Spagat zwischen einer sicheren Haftung der Etiketten und ihrem späteren rückstandsfreien Ablösen? Auch hier kommt wieder die innovative Mehrschichttechnologie zum Einsatz. Damit lassen sich tatsächlich Produkteigenschaften, die sich zunächst widersprechen, kombinieren, und der Einsatz von kostenintensiven Spezialmaterialien reduzieren. Denn wir sind in der Lage, jeder verwendeten Klebstoffschicht spezifische Eigenschaften zuzuweisen. In diesem Fall muss das Etikett sicher haften, sich aber in den gängigen Abwaschprozessen wieder rückstandsfrei lösen lassen. Das Etikett ist damit nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung. Deshalb führt in puncto Recycling von Kunststoffverpackungen nach unserer Einschätzung kein Weg an mehrschichtigen Haftklebesystemen für Etiketten vorbei.

2. Wir werden ein neuartiges trägerbandloses Etikettensystem einführen. Offiziell vorgestellt wird es zur Labelexpo bzw. zur Fachpack 2019. Dieses System wird die Anwendungsfelder von sogenannten Linerless-Etiketten dramatisch erweitern. Etikettenverwender müssen sich damit keine Gedanken mehr machen über die fachgerechte Entsorgung oder die Wiederaufbereitung von Unterlagenmaterialien. Diese werden dann ganz einfach nicht mehr benötigt. Das ist ein starkes Argument, wenn es um den nachhaltigen Einsatz von knappen Ressourcen geht. Detailliertere Informationen zum neuen Linerless-System gibt es im Spätsommer.

3. In den Fällen, in denen Linerless-Systeme technisch nicht möglich sind: Das Unterlagenmaterial von Etiketten ist inzwischen selbst ein begehrter Rohstoff. HERMA war 2010 der erste Haftmaterialhersteller, der nicht mehr benötigtes silikonisiertes Unterlagenpapier einem tatsächlichen Recyclingprozess zuführte. Das geschieht in enger Zusammenarbeit mit Cycle4Green, eine Organisation, die ein spezielles Verfahren entwickelt hat, um das Silikon abzuscheiden. Der österreichische Papierhersteller Lenzing, der große Erfahrung im Papier-Recycling hat, stellt daraus u. a. Fein- und Spezialpapiere her. Aus dem ehemaligen Unterlagenpapier wird hochwertiges Etikettenpapier – oder erneut Unterlagenpapier. 2018 hat HERMA allein aufgrund der dort gesammelten und wiederverwerteten Reste an Unterlagenpapier seinen gesamten Fuhrpark mit immerhin 78 Autos quasi CO2-neutral gestellt. Die Rechnung dahinter lautet: Gemäß dem Zertifikat von Cycle4Green (C4G) hat HERMA im Jahr 2018 rund 201 Tonnen nicht mehr benötigtes Unterlagenpapier aus der Haftmaterialproduktion einem speziellen Recycling zugeführt. Mit Hilfe von C4G und dem Papierhersteller Lenzing entstanden daraus Etikettenpapier und neues Unterlagenpapier, was beides unter anderem auch wieder von HERMA eingesetzt wird. Hätte man diese Produkte in gleicher Menge aus Frischfasern produziert, wären im Vergleich zum Recycling mehr CO2-Emissionen in Höhe von rund 406 Tonnen angefallen. Zum Vergleich: Der gesamte Fuhrpark des Familienunternehmens verursachte lediglich einen CO2-Ausstoß von knapp 400 Tonnen. HERMA appelliert an alle Etikettendruckereien und -verwender, sich ebenfalls an der Recyclinginitiative C4G zu beteiligen. Denn es lohnt sich – nicht nur fürs Klima. Es trägt auch dazu bei, den weiterhin bestehenden Kostenanstieg bei Rohstoffen zu dämpfen.

In der Verpackungsbranche gibt es eine Reihe von Ansätzen mit biobasierten Materialien. Wie sieht es damit bei HERMA aus?

Beim Haftmaterial für Papieretiketten verwenden wir Papier, das FSC- oder PEFC-zertifiziert ist, also aus nachhaltiger Forstwirtschaft stammt und biobasiert ist. Bei Thermopapieren können wir inzwischen Papiere anbieten, die gänzlich ohne chemische Entwickler auskommen. Bei Folien bieten wir in Kürze eine PE Folie, die aus einem Recyclat hergestellt wurde.

Der Begriff „biobasiert“ sollte jedoch nicht unkritisch verwendet werden. Beim Biotreibstoff gibt es ja schon die provokative Frage: Tank oder Teller? Und es wäre sicher auch zweifelhaft, Urwald zu roden, um Maisplantagen anzulegen, die wiederum für die Erzeugung von „Bio“-Naphtha dienen – dem Ausgangsstoff für „biobasierte“ Polyolefine.  

Wie sehen Sie klassische Etiketten im Vergleich zu neuen Trends wie Laser-Direktkennzeichnung oder Smart Labels? Stehen wir am Beginn einer neuen Ära?

Von einer neuen Ära zu sprechen scheint uns etwas übertrieben. Die mögliche Bandbreite der Kennzeichnungstechniken hat deutlich zugenommen. Aber es hat schon zu allen Zeiten Alternativen zu Etiketten gegeben. Das Etikett ist universell und extrem flexibel einsetzbar und es lässt sich äußerst vielfältig gestalten. Die Technologie ist grundsätzlich ausgereift, und viele Branchen sind erfahren in dem Einsatz der Selbstklebetechnik. Zudem sind die Kosten sehr überschaubar. Wir können feststellen, dass Etiketten in immer neue Nischen und Anwendungen vorstoßen. Dafür müssen sich Etiketten, ihre Haftklebstoffe und natürlich auch die Spendetechnologien ständig weiterentwickeln. Aber wie das geht, stellt HERMA seit Jahrzehnten unter Beweis. Und wir wachsen kontinuierlich.

Late-Stage-Customization, Personalisierung und Losgröße 1 sind im Verpackungsdruck ein interessanter Trend, nicht zuletzt auch, weil dann nur das gedruckt wird, was tatsächlich benötigt wird. Was kann Haftmaterial von HERMA dazu beitragen?

Wenn Etiketten personalisiert oder in kleineren Losgrößen produziert werden, werden sie in der Regel digital bedruckt. Dafür muss das Etikettenmaterial besonderen Anforderungen entsprechen. Viele unserer Produkte können zum Beispiel UV härtende Tinten sofort aufnehmen und produzieren dank optimaler Farbhaftung ein exzellentes Druckbild. Verstärkt kommen auch Drucklösungen mit Wasser basierenden Tinten zum Einsatz, weil das besonders wirtschaftlich bei sehr kleinen Auflagen ist. Sie benötigen jedoch oftmals einen speziellen Papierstrich, der die Farbe besser aufnehmen kann. HERMA hat dafür ein besonderes Sortiment entwickelt, das auf marktgängigen Inkjet-Printern zum Beispiel von Canon, Epson, HP, Trojan usw. hervorragende Druckergebnisse liefet, sowohl im Bogen- als auch im Rollendruck. Diese Materialien sind ebenfalls sehr gut geeignet für die ultraschnelle Memjet-Technologie, die mit ihrem unbeweglichen Druckkopf in Seitenbreite die Vorteile eines Tintenstrahldruckers mit der eines Seitendruckers verbindet. Eine entsprechende Folie von uns kann damit sogar seewasserfest bedruckt werden (gemäß BS5609, Sektion II und III). Grundsätzlich kann HERMA für jede Form des Digitaldrucks das passende Haftmaterial anbieten.

Spüren Sie ein wachsendes Bewusstsein für umweltrelevante Aspekte, wenn Sie mit Druckereien oder Etikettenverwendern sprechen?

Neben der jeweils individuellen Problemlösung liegt ein immer größerer Fokus auf dem Thema Nachhaltigkeit – das merken wir auf jeden Fall. Dazu habe ich weiter oben ja schon die HERMA Ansätze erläutert. Außerdem ist die schon geschilderte „Migration“ seit einigen Jahren ein wichtiges Thema, vor allem natürlich im Bereich von Lebensmitteln, Kosmetika und Pharma.

Dr. Ulli Nägele, Leiter Entwicklung und Anwendungstechnik, HERMA GmbH.